Mittwoch, Oktober 27, 2010

Frederick, der faule Sack

Ich nehme an, das Buch von Leo Lionni kennt jeder, oder? Die Mäuse, die gemeinsam an/in der grossen Steinmauer leben, den ganzen Sommer über Nahrung sammeln, nur Frederick nicht, der hängt gemütlich in der Sonne ab. Im Winter sitzen sie dann alle in der Höhle, knuspern ihr gesammeltes Zeug, auf einmal ist es aus, der Winter noch nicht um und Frederik ist der grosse Retter, weil er mit Geschichten über SommerSonneFröhlichkeit für gute Stimmung sorgt und alle haben sich wieder lieb.

Die Moral von der Geschicht ist auch klar: man braucht nicht nur Materielles zum Leben, Kunst, Phantasie etc. sind genauso wichtig.

So weit, so gut.

Was ich aber immer wieder mal denke (ich gebe zu, erst, seit ich erwachsen bin), ist: Vielleicht hätten die Mäuse gar nicht hungern müssen, wenn der faule Sack auch mal seinen Hintern hochbekommen hätte und anstatt in der Sonne zu braten auch mal die eine oder andere Nuss eingesammelt hätte.

Ja ja, ich weiss, die Menschheit wäre ärmer, wenn sie keinen Picasso oder Michelangelo oder Mozart oder Beethoven oder Take That gehabt hätte. Ja, auch geistig kann man verhungern. Ja, ich weiss, Kreativität braucht Freiraum und –zeit um sich entfalten zu können, das geht nicht auf Knopfdruck von 20 – 22.30h, wenn man sein Nuss-Soll für den Tag gesammelt hat.

Wahrscheinlich bin ich nur frustriert und beleidigt und möchte auch einfach mal nur der Frederik sein, der „Sonnenstrahlen“ sammeln kann und nicht eine Sammelmaus, die dafür sorgt, dass Essen eingekauft ist, rechtzeitig auf dem Tisch steht, die Kleider sauber, gewaschen und trocken (btw: morgen soll der neue Monteur kommen) sind, dass die Verpackungsspezifikationen und Sicherheits- und Toxdaten vollständig sind, die Kessel nicht überfüllt werden und alle lead times abgegeglichen sind, dass zu essen und zu trinken und Regenklamotten dabei ist, dass Öffnungszeiten gecheckt werden und Tickets besorgt werden, dass alle Allergien und Abneigungen berücksichtigt werden, dass Santichlaustermin von Krippe und Kindergarten nicht auf den selben Tag fallen und so Kram, während andere Menschen fröhlich nichts tun "Sonnenstrahlen und Farben sammeln“

(Und nein, keine grosse Krise hier, kein spezieller Anlass, kein Hals auf irgendeine spezielle Sonnensammlermaus, eher so eine allgemeine philosophische Anwandlung)

19 Kommentare:

Tanjas Traumberg hat gesagt…

Deswegen gehe ich jetzt faul frühstücken, statt die Wichtelseite auf Vordermann zu bringen.

Sonnenstrahlensammelzeiten muss man sich nehmen. Dann klappt auch das Nüssesammeln wieder besser. ;-)

(Und wo ich auf dem Weg bin, bringe ich endlich das Päckchen zum Götterboten. Asche auf mein Haupt.)

anna hat gesagt…

ich kenne das buch nicht, aber sie haben recht.
vielleicht wenn er auch mit gesammelt haette, haetten die anderen auch zeit gehabt, sich schoene lieder, geschichten, sonnenstrahlen auszudenken und fuer den winter zu speichern.
mit geht es da wie ihnen, wenn ich morgens aus dem haus gehe, waehrend die nachbarn alle noch zwei stunden schlafen und abend zurueck komme, wenn alle anderen schon mit dem abendbrot fertig sind, dann waere ich auch gerne eine Sonnensammlermaus statt immer an diesem dummen ratrace teilzunehmen.
So sammle ich aber an den Wochenenden noch ausgiebiger und inniger.

fuchsia hat gesagt…

Sie haben sooo recht.
Und außerdem waren die Mäuse bestimmt nach den Geschichten ganz fix wieder hungrig.

(Und außerdem nervt die Geschichte weil sie JEDES Jahr im Herbst wieder hervorgeholt wird. Von der Krabbelgruppe bis zur Grundschule!)

Geertje hat gesagt…

Das Dilemma kennt schon die Bibel - Maia und Martha. Und auch da weiß ich nie recht, wo ich mich - gerade als Frau - nun wiederfinde. Auch in dem Wissen, dass das Leben ganz sicher mehr als Pflicht und Hamsterrad ist, will es nicht immer gelingen. Und während ich das bedauere und durchaus schaue, wo ich Routinen auch durchbrechen kann, ärgere ich mich durchaus hier und da über die, die es sich vermeintlich (?) so viel leichter machen. Und mir dann vielleicht auch noch signalisieren, dass ich einfach nur nicht begriffen habe, worum es geht. :-) Möglich, dass sie auch gar nichts signalisieren, übrigens. *g*

Persönlich glaube ich, dass jeder seine eigene "Balance" definieren muss. Dass wir auch die Zeiten aushalten müssen, in denen die Waage mal nach der einen oder anderen Seite kippt. Ich war nicht immer happy, als ich "nur" zu Hause war, würde es aber trotzdem wieder für eine bestimmte Zeit so tun. Und ich bin heute manchmal sehr erschlagen, wenn die Überstunden ein extrem gesundes (und unbezahltes) Ausmaß annehmen. Manchmal muss man sich ein Stopp verordnen. Richtig schwer ist es dann, wenn das aufgrund äußerer Umstände nicht möglich ist, glaube ich. Wenn z.B. ein Partner fehlt.

Um so mehr ich es schaffe, mit meinem Entwurf im Frieden zu sein, um so besser komme ich mit Fredericks und Workaholics um mich herum klar.

Karin hat gesagt…

@geertje: das war übrigens eher so ganz allgemein gedacht und überhaupt nicht auf Arbeiten/Daheimbleiben etc. gedacht, wirklich nicht. Ich will diese Diskussion nicht schon wieder lostreten....

Anonym hat gesagt…

Sie sind aber nicht die einzige, die die "Moral von der Geschicht'" etwas befremdlich findet! Haben Sie mal die rezensionen bei amazon gelesen? Neben den Lobeshymnen gibt es da ja auch Stimmen wie
"die geschichte eines egozentrischen mitbuergers, der teilnahmslos zusieht waehrend andere sich fuer die gemeinschaft einsetzen um anschliessend zu schmarotzen. "
oder:

"mir gefällt nicht, dass es vermittelt, dass man mit Faulheit und schlauen Ausreden durchs Leben kommt und am Ende von seinen Erinnerungen leben kann und von den anderen dafür auch noch bewundert wird. Davon wird man im wahren Leben leider nicht satt."
Und ich selbst habe auch so meine Probleme, wenn ich erst "Frederick" vorlese und dann meine Kinder "antreibe", schnell die Malsachen vom Tisch zu räumen, damit wir Abendbrot essen können. Vielleicht sollte ich es einfach mal mit einer herzerwärmenden Geschichte (Frederick?) anstatt Abendbrot versuchen....
LG
rain

Anonym hat gesagt…

Naja, ich würde schon gerne eine Lanze für die Sonnensammlermäuse brechen, aber im echten Leben ist es eh meistens so, dass die Sonnensammlermäuse ganz nebenbei auch noch das Nüssesammeln zumindest für sich selbst miterledigen müssen. Weil im echten Leben merkt man relativ schnell, dass man von gut erzählten Geschichten allein noch lang nicht satt wird. In diesem Sinne wäre ich auch für etwas mehr realistische Differenzierung bei grundsätzlicher Sonnensammleraffinität in Kinderbüchern oder überhaupt.

Anonym hat gesagt…

Der gute Herr Lionni hat seine Idee auch nur "gesammelt" - bei Äsop: http://de.m.wikipedia.org/wiki/Die_Ameise_und_die_Heuschrecke
Wobei die Heuschrecke angewiesen ist auf "Mitleid". Die Variante von de la Fonaine lässt selbst das weg und ist noch drastischer mit ihrer Moral: "Rauhe und arbeitsame Hand werden nie in die Armut geraten; entgegen müßige haben nichts andres zu gewarten als den Bettelstab."
(Das klingt aber auch nicht so, wie ich mir ein Miteinander vorstelle...)
Anne

Karin hat gesagt…

@Anne: sicher nicht. Was mich an Frederick aufregt, ist, dass er dann, als es allen dreckig geht, als der grosse Held dasteht. Obwohl es zu dieser Notlage (vermutlich) gar nicht hätte kommen müssen, wenn er mit angepackt hätte.. Natürlich braucht es einen Sozialstaat,keine Frage. Aber diejenigen als, ich weiss nicht, die DUmmen hinstellen, die sich um die, wie sag ichs. Primärbedürfnisse kümmern, und ackern lassen, weil man selber ja so schön vergeistigt Sonnenstrahlen sammelt? Mhmm.
Solange das Ganze auf irgendeinem vorab vereinbarten Abkommen beruht, und als sowas sehe ich zB auch einen Sozialstaat, von mir aus. Aber, überspitzt gesagt, die anderen schuften lassen und einfach davon ausgehen, dass man dann mitfuttern kann, und sich dann als Held aufspielen..... das finde ich schon frech. (So, Frau Brüllen, beruhigen Sie sich. Es geht um eine Maus auf dem Papier. ;-))

Geertje hat gesagt…

@Kleines Brüllen:

Ich hätte aufpassen sollen. Es ging mir gar nicht explizit nur um diese eine Situation. Die ist lediglich ein Beispiel.

Das Thema, wie ich es sehe, begegnet mir im Alltag sehr wohl auch öfter. Und auch da muss ich mich fragen, ob ich mit den für mich getroffenen Entschlüssen im Reinen bin.

Wenn mich mein Pflichtbewusstsein zum Beispiel nach einer gelungenen Veranstaltung "zwingt", nicht einfach leicht beschwingt nach Hause zu gehen, sondern noch mit anzufassen und aufzuräumen, dann ärgere ich mich manchmal sehr über die Fredericks meiner Zeit. Ich habe häufig nicht den Eindruck, dass es da auch nur ein schlechtes Gewissen (z.B. halbherzig gemurmelte Entschuldigungen) gibt. Es wurden also Farben, Geschichten und Sonnenstrahlen genossen - das reicht.

Und nun?

Es ist und bleibt abhängig von meinem Nervenkostüm und meiner Gesamtverfassung, ob ich darüber hinweg sehen kann oder 3 graue Haare mehr bekomme. Im günstigeren Fall mache ich einen ironischen Kommentar mit den anderen Arbeitsidioten und wir haben gemeinsam Spaß. Im schlechteren Fall arbeite ich verbissen vor mich hin und denke mir, dass ich generell keine Lust auf eine Veranstaltung mit Schmarotzern habe. Der traurige Punkt ist: "Leiden" tue nur ich. :-/

Ihr Ansatzpunkt ist noch ein Stück anders und weniger persönlich, denke ich. Ich mag weder Nassauer noch Parasiten. Und wer weiß? Vielleicht wäre es eine gesündere Lehre für Kinder, wenn man ihnen vermitteln könnte, dass Arbeit nicht nur trostlos ist. Genau so wenig wie es selbstverständlich ist, dass der "Gammler" der Einzige sein kann, der nachher die bunte Welt zaubert.

Aber - und vielleicht wäre das dann noch ein ganz anderes Thema - es hat auch andernorts schon Streit um (gegen) die gegeben, die nicht vordergründig PRODUKTIV waren. Vielschichtig und heikel...

dunski hat gesagt…

coole Diskussion! Ich hab das Lesen jetzt grad sehr genossen!

Wir besitzen eine Hörfassung der Geschichte, die ist so so so schrecklich, dass mir schon allein deswegen die Geschichte nicht gefällt.
Es ist spät und sie haben alle schon herrlich darüber berichtet, da lass ich weitere Gedanken zu Bett gehen.

anna hat gesagt…

laesst auch mich nicht los und der skypainter und ich haben es gerade ausfuehrlichst diskutiert. der skypainter steht da irgendwie mehr auf fredriks seite, ich nicht so: er sagt: jeder muss, dass machen was er gut kann und fuer alles gibt es einen platz. er sagt fredrik hat nicht nur faul rumgehangen, sondern gearbeitet, sich geschichten ausgedacht und verfeinert, das war sein teil der ernte des sommers. wir wollen uns das buch jetzt mal borgen und selbst lesen. eine frage habe ich allerdings noch: wie machen sie das mit den kinderbuechern? lesen sie sie erst und wenn sie ihnen zusagen, dann den kindern vor oder lesen sie sie mit den kindern gemeinsam und erklaeren ihnen dann was sie gut oder nicht gut finden?

Daniela hat gesagt…

Es gibt da noch so was aus der Reihe, das heißt "Geraldine und die mauseflöte". Wenn Ihnen der Frederik schon wien fauler Sacke vorkommt, sollten Sie Geraldine kenne lernen. Wobei es da noch schräger moralisch lief und ich ehrlich gesagt nicht mehr genau weiß, wie. Aber es ist ein dämliches Buch. Wir haben mittlerweile auch eine Kiste Pixibücher, die nicht mehr in Kinderhände kommen, weil wir sie hassen :-)

Frau Maus hat gesagt…

Uih, manchmal wird einem angst und bange, wenn man (die Kommentare) in Ihrem Blog liest. Frau Maus sagt mal so ganz jovial, dass jede Gesellschaft ihren Frederick braucht, idealerweise darf auch jeder mal der Frederick sein. Da aber nichts im Leben ideal verläuft... Und nein, Frederick hat sicherlich nicht den Hauch einer Ahnung vom Kapitalismus. ;)

Muckeltiger hat gesagt…

Interessant.
Ich habe die Geschichte noch nie anders wahr genommen als ein "Hey! Vergiss die Farben nicht!"-Memo. Eine ganz leichte, über den Tellerrand-schau-Geschichte. Ein Such-das-Positive-Ding. (dann hast du in der Not).
Frederick als Sozialschmarotzersau - nein, ganz und gar nicht.
Strange!

Ute hat gesagt…

LOL! Saskia und Tobias waren zu Erntedank an der Aufführung dieser Geschichte im Kindergarten beteiligt. Ich kannte die Story bisher dahin nicht, hatte aber bei der Pointe ganz genau die selben Gedanken wie Du. *g*

In Irland zahlen freischaffende Künstler keine Steuern. Sagt mein bester Freund, der dort seit einigen Jahren lebt. Als Künstler. Jetzt, wo das Land langsam pleite geht, dämmert es auch ihm, daß man Sonnenstrahlen nicht essen kann. Und ganz ehrlich: Im Sudan sollte man diese Geschichte besser nicht vorlesen. Sonnenschein galore, aber mit knurrendem Magen pfeift man doch auf süßliche Geschichtchen. ^^

Ute hat gesagt…

PS: Noch ein Buch, dessen Moral ich auf den Tod nicht ab kann, ist der "Regenbogenfisch". Ein arroganter, eitler Armleuchter, der sich ebenso mieser Erpressung durch die Gruppe beugt und sich "Freundschaft" erkauft, indem er (bis auf eine) alle seine Glitzerschuppen verschenkt. Erst da darf er Teil der Gemeinschaft sein. Obwohl nirgendwo steht, daß sich inzwischen irgendwas an seinem Charakter geändert hätte.

Ja nee, is klar! *Örks*

Karin hat gesagt…

Ohja, der Regenbogenfisch...... genau meine Gedanken.... ;-)

Anonym hat gesagt…

@Ute: Genial auf den Punkt gebracht, danke.
Anne