Dienstag, Juni 09, 2020

090620 Mfg

Ha, ich habe mich gerade mit Frau Novemberregen auf Twitter über "technisch bedingte Füllhöhe von Brühepulver" unterhalten und das ist der Anlass für ein kleines Erklärstück hier auf dem Blog, weil ja, mal so unter uns: hier passiert ja nix. Jonny ist seit heute wieder gesund, die Kinder gehen zur Schule, der Mann und ich arbeiten im Homeoffice (eventuell geht er ab nächste Woche wieder ins Büro, dann werde ich hier total vereinsamen und zur schrulligen Eremitin werden), wir sporteln, essen, gucken Netflix, so spannend ist das alles nicht.

Also.

Ich erzähle Ihnen natürlich nix über Brühepulver, weil damit kenne ich mich nicht aus, ausser "Heisses Wasser drauf, fertig", auch nix über "technisch bedingte Füllhöhen", weil, könnte ich zwar, hätte sogar Pandemiebezug, allerdings nicht zur aktuellen, ich habe allerdings den Verdacht, dass das erstens vertraulich ist und zweitens gar nicht so unterhaltsam und spannend, wie es uns Involvierten gern vorkommt.

Wir kamen vom Brühepulver auf Beschwerdehotlines und unconfirmed complaints und APQRs und damit kenne ich mich aus.

Also. Für jedes Medikament (VERGESSEN SIE DAS BRÜHEPULVER! (Keine Ahnung, ob das für Lebensmittel auch gilt. Ich kenn mich mit Lebensmitteln nicht aus)) muss jedes Jahr evaluiert werden, ob die Produktqualität, der Herstellprozess und all dessen Kontrollen den Anforderungen, den gesetzlichen Vorgaben, den bei den Gesundheitsbehörden eingereichten Dokumentationen, den internen Spezifikationen etc entsprechen. Das ist eine generelle GMP-Anforderung und diese Annual Product Quality Review-Dokumente (unter Freunden "APQR", weil Akronyme sind a thing) müssen bei Behördeninspektionen vorgelegt werden können.
Auf den ersten Blick klingt das nicht so kompliziert,
 wenn man sich aber mal anschaut, was da reingehört und wie so eine Medikamentenlieferkette aufgesetzt ist, dann wird das doch sehr komplex.
So erstellt jede einzelne Produktionsstätte in so einer Lieferkette ihren eigenen APQR (das sind die Produktionsstätten für die Wirkstoffe, die für die verschiedenen galenischen Formen, die Verpackungsbetriebe, die verschiedenen Orte, an denen die Qualität getestet wird.). All diese Reports werden dann zusammengenommen und daraus ein End-to-End report erstellt, das heisst, ein Bericht, der alles umfasst von Wirkstoffherstellung über Bulk-Herstellung (sprich zB Fässer voller Tabletten) und Verpackung (Schachteln mit Blistern zB). Darin wird dann auch überprüft, ob zwei Produktionsstätten, die das gleiche machen, auch wirklich das gleiche machen und auch das gleiche rauskommt. Oder ob zB die Tablette aus der Presse in Italien härter ist als aus der in Brasilien. Und warum. Und wie man das hinbekommen könnte, dass es egal ist, wo die Tablette herkommt, sie ist immer gleich hart.
Jeder einzelne dieser Reports pro Produktionssite umfasst Bereiche wie:

  • Quality Agreements (Ist die Zusammenarbeit mit den Sites vor und nach "meinem" Schritt geregelt?)
  • Technische Änderungen (Was wurde im letzten Jahr am Produktionsprozess geändert und warum?)
  • Wieviel wurde produziert? Wieviel davon war ok, nicht ok, musste umgearbeitet werden, verbrannt werden? Wie sah das im Vorjahr aus? Warum? Muss man was besser machen?
  • Wenn was in die Hose ging: warum genau? Ist das schon mal passiert? Wie oft? War es Zufall? Stimmt was am Prozess nicht?
  • Zusicherungen an Behörden: was haben wir Behörden versprochen, dass wir noch nachliefern und wo stehen wir da?
  • Issues und Recalls: Was ist letztes Jahr so richtig grob in die Hose gegangen? Mussten wir Produkt vom Markt zurückrufen? (Und immer die Fragen: warum? wie war es letztes Jahr? Muss was angepasst werden, um nächstes Jahr besser zu sein?)
  • Product und process monitoring: auch wenn alles im Rahmen der Spezifikation war, was sagt die statistische Auswertung der Produktionsparameter? Wie waren die Schwankungen? Gibt es einen Trend? (Sie ahnen es: warum? wie war es letztes Jahr? Muss was angepasst werden, um nächstes Jahr besser zu sein?)
  • Stabilitätsdaten: wie Sie ja wissen, ist das Ablaufdatum auf Medikamentenpackungen kein Mindesthaltbarkeitsdatum und durch Stabilitätsstudien gestützt. Alle laufenden Stab-Studien werden auch im Rahmen des APQRs aufgeführt und überprüft, ob die aktuellen Daten die registrierten Haltbarkeitsdaten nach wie vor unterstützen.
  • etc.


All das (für jede involvierte Produktionsstätte, für jede Dosierung jedes Medikaments und dann nochmal für die gesamte Lieferkette) ist eine riesige Menge an Daten, Analysen etc., die man natürlich, weil man unterschreibt ja am Ende, dass das alles richtig ist und wer unterschrieben hat, muss am Ende dafür gerade stehen, es steckt also eine Riesenmenge Arbeit von sehr vielen Leuten drin.

Für mich persönlich ist das letzte Kapitel vor der Zusammenfassung dann fast wie die Belohnung für das Durchfieseln des trockenen Teil vorher: der Abschnitt mit den Complaints. Das ist der Teil, der für mich die Verbindung "zur Welt da draussen" darstellt, der Teil, den ich nicht jeden Tag in meinem Job hautnah erlebe.

Complaints, also Beschwerden, sei es von Apothekern, Krankenhäusern, Ärzten oder auch Patienten oder deren Eltern direkt, werden alle aufgenommen und überprüft und NATÜRLICH im APQR aufgeführt (Sie ahnen: wieviele, wie schlimm, wie viele zu welchem Thema, waren sie begründet, gab es, das wäre das schlimmste, "critical medical complaints", wie war es letztes Jahr? Gibt es einen Trend? Müssen wir was tun, um das zu verbessern?).

Complaints sind so eine Sache: keiner will ein Produkt verkaufen, das nicht in Ordnung ist, man bemüht sich nach Kräften, dass es keinen Grund zu Beschwerden gibt. Durch die Trendanalyse sieht man auch sehr gut, wenn man zB irgendeine technische Sache nicht auf dem Radar gehabt hat und man macht sich schleunigst dran, das zu ändern.

Allerdings gibt es auch immer eine subjektive Wahrnehmung und auch Dinge, die sind einfach so, die liegen zum Teil in der Natur des Produkts, da kann man nichts dran ändern. Oder nicht in der Herstellerverantwortung, da kann der auch nichts dran ändern.

Wenn sich zB Eltern drüber beschweren, dass ihrem Kind der Sirup nicht geschmeckt hat und sie hätten auch probiert und richtig toll würde der wirklich nicht schmecken, dann wird dieser Complaint aufgenommen, es wird um Einsendung des komisch schmeckenden Sirups gebeten, es wird überprüft, ob bei der Herstellung der Sirupcharge alles in Ordnung war, ob die Zusammensetzung stimmt, ob irgendetwas nicht ganz nach Plan gelaufen ist, ob es sich wirklich um ein Originalprodukt oder eine Fälschung handelt, und wenn dann rauskommt, dass alles in Ordnung ist und das Kind und die Eltern halt keine Fans von "Strawberry flavour" sind, tja, dann ist das schade für das Kind und die Eltern, aber der complaint ist dann unconfirmed, weil: das Produkt ist absolut in Ordnung.

Ähnlich, wenn Sie in ihrem Blister zerbrochene Tabletten entdecken: Falls der Fehler irgendwie in der Produktions- und Lieferkette in der Verantwortung des Herstellers liegt, wird er dem nachgehen und Verbesserungsmassnahmen überprüfen. Wenn aber im Lager des Grosshändlers eine Palette aus dem Hochregallager runtergedonnert ist oder Sie selber aus Versehen auf den Blister getreten sind, dann.... wird das ein unconfirmed complaint und es wird eher nichts am Tablettierprozess geändert.

Wenn Sie Weichgelatinekapseln verschrieben bekommen haben und die kommen Ihnen auf einmal arg gummig vor oder viel härter als beim letzten Mal, wird auch hier alles überprüft und höchstwahrscheinlich bekommen Sie die Antwort, dass die Härte von Weichgelatinekapseln sehr stark von der Umgebungstemperatur abhängt, dass Sie darauf achten sollen, sie korrekt zu lagern und die gefühlte Härte sehr subjektiv wahrgenommen wird.

Wenn Sie aber zB auf einmal eine grüne statt sonst immer gelben Kapseln in der Packung haben oder leere Blisterhöfe oder halbe Tabletten oder zerbrochene Deckel an Sirupflaschen oder wenn Ihnen bei einer original verschlossenen Tropfflasche das Tropfdingsi rausfällt oder der Erdbeersirup auf einmal nach Leberwurst schmeckt, all das wird höchstwahrscheinlich in einem "confirmed" complaint enden und in hektischen Aktivitäten auf Herstellerseite münden, von denen Sie vermutlich nichts mitbekommen. Dafür übrigens immer das beanstandete Material zur Verfügung stellen, in den allermeisten Fällen wird das anstandslos ersetzt, egal ob confirmed oder nicht.

Nachgegangen und überprüft wird tatsächlich jeder einzelne Complaint, das ist unser Job :-), und falls es einer für eins "meiner" Produkte ist, lese ich den allerspätenstens im nächsten APQR, wenn es confirmed wird, auch schon vorher.

Falls das jetzt etwas arg flapsig klang: wann immer Ihnen etwas an einem Medikament seltsam vorkommt oder Sie das Gefühl haben, es stimmt was nicht, oder eine Nebenwirkung beobachten, rufen Sie an, immer. Die Nummer steht auf dem Beipackzettel, die Leute am anderen Ende sind immer nett und höflich und kümmern sich drum. IMMER. Das ist ihr und unser Job und Herzensanliegen.

(Ich kenne mich immer noch nicht mit Brühepulver und Lebensmitteln aus, würde aber fest davon ausgehen, wenn Sie da anrufen und sagen, das Glas wäre nicht voll, würde Ihnen vermutlich jemand sehr, sehr höflich erklären, was "Füllhöhe technisch bedingt" bedeutet und dass das alles seine Richtigkeit hat, und das Ganze würde als unconfirmed in die Statistik eingehen. Vielleicht würden Sie auch ein Probierpaket mit verschiedenen Brühepulvern bekommen. Aber ich kenne mich mit Lebensmitteln nicht aus.)