Donnerstag, Februar 04, 2021

040221 Holland in Not

 Gestern abend kam ich, ich weiss gar nicht mehr genau warum.... beim Abendessen und danach, es ist nämlich eine längere Geschichte, ins Schwadronieren geraten (ah, es ging um Unterschied zwischen Analyse und Synthese, um Risikobetrachtung, um den gekippten Rhein 1986 und von da war es nicht mehr weit zu War Stories, bei denen wir dabei waren) und weil hier ja aktuell NIX oder wenigstens nix Spannendes passiert, erzähle ich heute mal, wie mir unterstellt wurde, fahrlässig die Trinkwasserversorgung von ganz Holland aufs Spiel zu setzen. Es ist auch ein bisschen ein Lehrstück über Zahlen, Daten, Interpretation, Lösungssuche und, ganz wichtig, darüber, wie wichtig es ist, zu verstehen, wann man selber der Experte ist und dementsprechend zu agieren.

Also. Ich teile hier keine Details, weil das alles sehr lang her ist und ich mich nicht mehr genau an alles erinnere, tut auch nix zur Sache, es ist verjährt, die Firma, bei der ich damals arbeitete, gibt es nicht mehr (was übrigens alle Firmen, bei denen ich bisher war, gemeinsam haben. Hm.)

Ich hatte damals recht frisch die Verantwortung für eine Produktion übernommen, die 7 Tage die Woche lief, nicht im Konti, sondern im Batchbetrieb, will heissen, dass alle 24h ein Batch gestartet wurde und dementsprechend auch alle 24h ein Batch fertig wurde. In diesem Verfahren wurde ein Lösungsmittel eingesetzt, das damals nur als "gar nicht biologisch abbaubar und Verdacht auf reprotoxisch and teratogen" galt, heute steht das Produkt auf der Liste der "Substances of Very High Concern" und darf seit  2015 nicht mehr in der EU (oder in Produktion für die EU) verwendet werden.

Noch dazu ist dieses Lösungsmittel mit Wasser unbegrenzt mischbar, d.h. man kann es nicht als organische Phase abtrennen, es ist halt einfach im Wasser.

Deshalb konnten wir das Abwasser der Produktion damals nicht direkt in die Kläranlage einleiten, sondern hatten speziell dafür eine Fenton-Oxidationsanlage (Was die Fenton-Oxidation ist, können Sie selber googlen, wenn es Sie interessiert.) für das Abwasser im Keller stehen, das war ein Riesenrohrreaktor, das war schon etwas besonderes. 

Weil ja Chemieunternehmen immer unterstellt wird, mit Freude Flüsse und Gewässer und Boden und Luft zu verseuchen hier ein kleiner Exkurs: Abwasser und Abgas und überhaupt Abfallentsorgung gehört zu jeder Verfahrensentwicklung dazu. Für das Abwasser bedeutet das: bevor man prodzieren darf, müssen Abbaubarkeitsstudien durchgeführt werden mit Klärschlamm aus der entsprechenden Kläranlage und erst wenn die bestanden sind (und natürlich keine wassergefährdenden Stoffe enthalten sind), darf man starten. Ich habe in meiner Zeit in der Verfahrensentwicklung mehr über Wassertiere gelernt als in 11 Jahren Schulbiologie (Goldorphe, Wasserfloh, Buntbarsch, Daphnien ....). Dann muss man den Kläranlagenbetreibern jeweils rechtzeitig anmelden, dass was und was genau wann kommt und dann kann man loslegen.

Durch diesen Rohrreaktor wurde also alles Abwasser geschickt, dadurch wurde dieses Lösungsmittel bis auf eine sehr, sehr kleine Restmenge zu unproblematischen Abbauprodukten zersetzt und war bereit für die Kläranlage und dann für den Rhein vor der Haustür.

Wie erwähnt lief die Produktion auf Hochtouren, alle 24h Stunden fielen also mehrere Kubikmeter dieses Abwassers an. Bei der Übernahme der Produktion wurde mir eingebläut, dass es ein absolutes No-Go wäre, das Abwasser unbehandelt abzulassen, d.h. für den Fall, dass der Rohrreaktor ausfallen würde, stand ein Ersatzreaktor im Lager bereit und zur Überbrückung der Umrüstzeit standen Swisscontainer zum Lagern des Abwassers bereit. Viele Swisscontainer (ein Container fasst 1m3, das sind 1000L).

Die Produktion lief also vor sich hin, ich machte meinen Job, überprüfte täglich den Rohrreaktor oder zumindest die Protokolle, in denen die Überprüfung des Rohrreaktors dokumentiert wurde, nix fiel aus, alles lief super.

Eines Tages stand unser "SGU-Beauftragter" in meinem Büro (SGU = Sicherheit, Gesundheit und Umwelt. Heute heisst das SHE-Officer, das bedeutet dasselbe, aber man kann mehr Witze damit machen. Apres-SHE, SHE-Hulk, SHE-Kurs. Ich schweife ab.), weil "Wir müssen reden."

Er hatte einen Anruf von der Rheinüberwachungsstation im Dreiländereck ein paar Kilometer rheinabwärts bekommen, dass die Konzentration ebendieses Stoffes über einer gewissen Schwelle gewesen wäre.

Dort wird an mehreren Stellen im Fluss kontinuierlich die Wasserqualität überwacht, sowohl auf bekannte Verunreinigungen (man muss wissen, wenn der Rhein die Schweiz dort verlässt, haben schon alle Chemie- und Pharmaunternehmen der Schweiz ihre Abwasser eingeleitet und das sind einige.), als auch auf (noch) unbekannte Stoffe. Für bekannte Stoffe wird die Alarmkonzentration aufgrund des Toxizitätsprofils festgelegt, für unbekannte Stoffe gilt ein generischer Wert. Sobald ein unbekannter Stoff immer wieder auffällt als oberhalb dieses Grenzwertes, wird bestimmt, was das ist und wo das herkommt. Das war schon vor meiner Zeit für "mein" Lösungsmittel passiert (daher wusste der übergebende Kollege, was passiert, wenn der Fentonreaktor mal nicht ganz so tut, wie er sollte), es wurde also analysiert, dann bei den einleitenden Unternehmen nachgefragt, wer das verwendet und glücklicherweise waren wir auf der ganzen Rheinstrecke von Quelle bis Schweizer Grenze die einzigen. Glücklicherweise, weil: wir mussten uns nicht mit den "Kollegialfirmen", wie man sie nennt, wenn man sich grad gut verträgt, einigen und absprechen, nicht ganz so glücklicherweise, weil wenn immer mehr auftauchte, stand erst die Rheinüberwachungsstelle und dann die Umweltämter zweier Kantone und dann das Umweltbundesamt bei uns vor der Tür. Respektive vor der Tür uneres SGU-Chemikers. Und der dann vor meiner Tür oder auch direkt schon im Büro.

Also. Wir hatten also den Wert überschritten, bei dem erstmal die Überwachungsstation aufmerkte. Der SGU-Chemiker versprach der Überwachungsstation, dem nachzugehen und im Auge zu behalten. Ich überprüfte den Fentonreaktor, die Produktion, die Wassermenge, die der Rhein in den Tagen führte (das hydrogeologische Bundesamt stellt das tagesaktuell zur Verfügung, aus retrospektiv), es sah alles gut aus, ich versprach de, SGU-Chemiker, das im Auge zu behalten.

Es ging ein bisschen, es gab immer mal wieder einzelne Anrufe, es war nie oberhalb des tatsächlichen Grenzwerts, nur oberhalb der "wir werden nervös"-Schwelle und irgendwann wurde auch der SGU-Chemiker nervös. Er stand bei mir im Büro und meinte: "So, wir können nicht nix machen, das fliesst den Rhein runter, es wird überhaupt nicht abgebaut, was drin ist, ist drin, dann kommt noch die BASF und weiss der Geier, wenn die nur noch ein Minischlückchen einleiten, dann ist das oberhalb des Grenzwerts, weisst du eigentlich, dass ganz Holland ihr Trinkwasser aus dem Rhein bezieht und was passiert, wenn die das abklemmen müssen und DU BIST DRAN SCHULD?!" Okay, ich hatte jetzt nicht soooo eine grosse oder überhaupt eine emotionale Bindung an Holland und ich würde Rheinwasser schon in Basel oder auch vor unserer Einleitestelle nicht unbedingt trinken wollen, geschweige denn hinter der BASF, aber vermutlich ist das alles Gewohnheitssache und ich möchte jetzt ja auch nicht dran schuld sein, wenn ganz Holland Flaschenwasser trinken muss anstatt der Dreckbrühe aus dem Rhein, bloss weil ich ein bisschen zu viel vielleicht teratogenes, vielleicht reprotoxisches reingeleitet habe.

Also hatte ich nicht mehr nur ein Auge drauf, sondern "machte was".

Was ich machte, war: dem Produktstrom folgen. Ich wusste ja, wieviel von dem Stoff wir in die Reaktoren oben reinschütteten, also liess ich Muster ziehen und analysieren:

  • Aus der Mutterlauge (= festes Produkt war abfiltriert) und 
  • der Waschlauge, sowie
  • aus dem Abwasserpufferbehälter vor dem Fentonreaktor

Ich liess Durchflussmesser installieren, um die Gesamtströme zu messen und aus den gemessenen Konzentrationen absolute Mengen zu berechnen. Die verglich ich mit den Einsatzmengen, wiederholte das für eine Anzahl Batches und wusste am Ende: was wir oben reinschütten, kommt im Abwasser auch wieder an. Wir haben kein Leck, keine undichte Leitung oder irgenwas, wo etwas raussickert und so im Rhein landet.

Ich liess die Konzentration vor und nach dem Fentonreaktor bestimmen, die Betriebstemperatur aufzeichnen und konnte auch da nach einer gewissen Zeit sagen: der tut was er soll, er läuft verlässlich und reduziert die Konzentration des Lösungsmittel auf den Grenzwert, den wir anpeilten.

Ich rechnete diese Restmengen mit der Wassermenge um, die der Rhein führte (das schwankt jahreszeitlich durchaus ordentlich) und auch mit den potentiell niedrigsten Wassermengen kam ich nicht einmal in die Nähe der Meldeschwelle, die regelmässig gerissen wurde. Dort lernte ich übrigens den Satz, den ich seither erstaunlich oft angebracht habe: "Eins ist ganz klar: wir werden unseren Produktionsplan nicht dem Wetter anpassen. Wir haben das 21. Jahrhundert, wir müssen wetterunaabhängige Prozesse haben." Das passt erstaunlich oft und wird erstaunlich oft nur halb im Spass vorgeschlagen, ist aber nie eine gute Idee. 

Ich kontaktierte die "Kollegialfirmen" rheinaufwärts und -abwärts, ob sie vielleicht neu doch auch dieses Lösungsmittel verwenden würden, aber nein, nix.

Zu diesem Zeitpunkt wurde der SGU-Chemiker langsam sehr nervös. Er verpflichtete mich zu "out of the box thinking" und dazu, das gesamte Konzept in Frage zu stellen. Einer unserer obersten Bosse auf dem Standort war frisch von einem Sitevisit eines anderen Standorts im Wallis zurückgekommen und hatte sich gemerkt, dass die dort eine Hochtemperaturverbrennungsanlage mit freien Kapazitäten hätten. Und das wäre doch eine sehr saubere Lösung, das Abwasser nicht in den Rhein zu leiten, sondern zu verbrennen. Im Wallis. Jede Woche mehrere Eisenbahnkesselwagen voll. Um zu zeigen, dass das keine wirklich super Idee wäre, rechnete ich also nicht nur noch mehr Mustermengen in Konzentrationen im Rhein um, sondern liess mir auch noch Offerten für Kesselwagenbuchungen ins Wallis von SBB Cargo schicken, um den SGU-Chemiker und den Oberboss mit kreativen Lösungsansätzen zu beruhigen.

Parallel folgte ich weiter der Spur des Produkts. Nach dem Fentonreaktor wurde das ganze in unser Arealabwassersystem eingespeist, ich liess also an der Einspeisestelle und den verschiedenen Einmündungen anderer Ströme Muster ziehen (Ich habe so viele Leute und Tunnel kennengelernt!), rechnete Massenströme aus und die Bilanz stimmte immer noch.

Der SGU-Chemiker war immer noch sehr nervös und rechnete mir anhand der Überwachungsdaten aus, dass ich ungefähr doppelt bis dreimal so viel einleiten würde, wie ich anhand meiner Muster behaupten würde und ich hätte ganz klar den Prozess nicht unter Kontrolle und wann wir denn den ersten Zug ins Wallis schicken würden.

Ich war langsam tatsächlich ratlos. Mir war klar, dass meine Daten von der Quelle die verlässlicheren sein MÜSSEN, weil ... naja danach verdünne ich das alles mit einem STROM, ziehe dann ein Gläschen zur Probe und rechne dann zurück, das kann nicht genauer sein als das, was ich direkt an meinem Reaktor messe.

Ich freundete mich mit den Leuten inder Rheinüberwachungsstelle an, bekam jeden Tag die Messwerte geschickt, dokumentierte jeden Tag das, was wir ins Abwasser schickten, rechnete mit der Wassermenge im Rhein um und an einem Grossteil der Tage stimmte es recht gut, an anderen waren die Werte einfach immer zu hoch, an wieder anderen zu niedrig.

Ich lief also (nicht nur in Gedanken) die Rohrleitung weiter entlang und landete... in der Kläranlage. Ich hatte keine grosse Hoffnung, dort auf des Rätsels Lösung zu stossen, weil ich ja wusste: das Zeug ist biologisch NULL abbaubar, es wird nicht weniger, aber es kann dort auch nicht mehr werden. Trotzdem: die Idee mit dem Zug jede Woche ins Wallis war so irre, ich besuchte also die Leute in der Kläranlage und schilderte mein Problem und während ich also mit all meinen Diagrammen und Schaubildern über WOCHEN rumhantierte, meinte einer der Kollegen dort: "Ja, das ist ja alles schön und gut, aber es stimmt nicht. Wir gehen hier am Freitag um fünf nach Hause und kommen am Montag um sechs in der Früh wieder. Dazwischen ist der Ablauf zu."

Bumm.

Und so klärte sich 400000 Messpunkte später alles ganz einfach auf: die Kläranlage machte Wochenende, die Produktionsabwässer übers Wochenende wurden gesammelt und am Montag gesammelt abgelassen. Je nach Strömungsgeschwindigkeit des Rheins kam zwei, drei, vier Tage später an der Rheinüberwachungsstelle der Montagsschwapp von uns an, der nicht nur die Menge EINES Ansatzes enthielt, sondern die von dreien. Und das war manchmal einfach zu viel.

Ab da war die Lösung dann einfach, ich konnte das Zugprojekt beerdigen und musste nur dafür sorgen, dass während laufender Produktion sichergestellt wurde, dass am Samstag und Sonntag ein Kläranlagenkollege einmal das Einleitrohr öffnete.

Ende der Geschichte. Holland kann entspannt weitertrinken.

1 Kommentar:

Graugrüngelb hat gesagt…

Ich hab die Geschichte eben zum zweiten Mal gelesen und finde immer wieder spannend, wo sich plötzlich Probleme auftun können, die vorher offenbar kein Mensch auf dem Schirm hatte. Darauf, dass ausgerechnet die Kläranlage nicht immer klärt, muss man auch erstmal kommen.