Bloss nix ändern!
In meinem ersten Job nach der Uni in der Prozessentwicklung eines Spezialchemikalienunternehmens meinte mein Chef damals immer, wenn wir Prozessentwicklungschemiker mal wieder seufzend an die Mögichkeiten (und Gehälter) in einem Pharmaunternehmen dachten: "Aber Eure Fähigkeiten wären dort total verschwendet, Prozessentwickler brauchen die da nicht, das können die nicht und wissen das auch nicht zu schätzen."
Ganz so ist es natürlich nicht, aber er hat schon ein bisschen recht: einen grosstechnischen Produktionsprozess so zu entwickeln oder auch später noch so zu optimieren, dass 1 kg Produkt in der Herstellung nicht 14.60CHF kostet, sondern 13,80CHF, das ist nicht leicht, das braucht Erfahrung und Kreativität und kann für das Unternehmen einen sehr grossen finanziellen Unterschied machen, wenn der Verkaufspreis zB bei 17.20CHF/kg liegt und man 60000 Tonnen im Jahr produziert.
In der Pharmaindustrie ist das ... anders. Nicht nur, weil die Herstellungskosten (da reden wir eher mal Faktor 100) und die Mengen (mal Faktor 0.01 - 0,000001) und die Margen (aus Gründen. Sehr guten und vielleicht nicht ganz so guten) ganz andere sind, nein, auch weil jede Art von Änderung einen so unglaublich grossen Rattenschwanz hinter sich herzieht, der unglaublich viel Zeit, Geld und Ressourcen kostet, das kann man sich als Aussenstehender gar nicht vorstellen.
Ich lese und höre immer wieder: "Boah, diese Tabletten, die sind so gross, die kann man kaum schlucken" oder "Dieser Sirup schmeckt so scheusslich, warum gibt es den nur mit Erdbeeraroma und nicht auch mit Kaugummi- oder Orangengeschmack?". Das hat nun nichts mit Sadismus oder mangelnden Geschmacksnerven des Pharmakartells zu tun, es ist ....kompliziert.
Bevor ein Medikament erstmals auf den Markt kommt*, muss es bei den Gesundheitsbehörden eingereicht werden. Da geht es nicht nur darum, dass das Medikament wirkt, besser wirkt als die bereits auf dem Markt bestehenden, dass das Medikament sicher ist, dass seine Stabilität in der entsprechenden Klimazone überprüft wurde, nein, es wird auch offengelegt, wie man das Medikament (also: Wirkstoff und die Darreichungsform an sich dann) herstellt. Es wird überprüft, über welchen Syntheseweg man zum Wirkstoff kommt, was die Strategie für Starting Materials ist (d.h. wie weit ich in der Synthese zurückgehen muss mit GMP*-Anforderungen), welche Nebenprodukte entstehen, wie man die kontrolliert, ob potentiell genotoxische Verunreinigungen enthalten sein könnten, wie man die kontrolliert oder noch besser ausschliesst, wo man produziert, in welchem Massstab man produziert, welcher Spezifikation der Wirkstoff, alle Zwischenstufen und auch alle Reagenzien erfüllen müssen und warum oder warum nicht, und noch viel, viel mehr.
Man kann ein Medikament erst verkaufen, wenn die Gesundheitsbehörde eines Landes das überprüft und abgesegnet hat, und das kann .... dauern. Wenn sie nicht auf Anhieb mit den Daten zufrieden sind, gibt es Frage-Antwort-Runden, eventuell muss man noch etwas ändern oder nachliefern. Natürlich sind die Anforderungen nicht für alle Länder gleich und da man (also, ich spreche da nur für meinen Arbeitgeber) ein Medikament ja nie nur in einem Land verkaufen möchte, sondern weltweit, kann sich das ganz schön ziehen.
Für ein neues Medikament läuft der Patentschutz (also die Zeit, in der kein anderer dieses Medikament herstellen und verkaufen darf) allerdings ab dem Zeitpunkt, wo man das Patent auf den Wirkstoff eingereicht hat und das ist sehr, sehr früh in der Entwicklung, da kennt man das Molekül und vermutet einen Wirkmechanismus, aber weder der Prozess noch die galenische Form sind da ansatzweise definiert. Ab diesem Zeitpunkt tickt sozusagen die Uhr, einerseits weil die Zeit, die einem Unternehmen bleibt, mit einem Medikament ohne Generikakonkurrenz Geld zu verdienen, eben immer kürzer wird, je länger man braucht, um von der Patenteinreichung bis zur Markteinführung zu kommen, andererseits (und diesen Aspekt lassen die, die immer auf die böse, gierige Pharmaindustrie schimpfen, gerne elegant unter den Tisch fallen) steht das Medikament in der Zeit, in der es in der Entwicklung steckt, natürlich Patienten, die es dringend brauchen, nicht zur Verfügung. Zumindest in den Sparten, in denen mein Arbeitgeber tätig ist, geht es dort tatsächlich um Menschenleben.
Und da ist es dann auch verständlich, wenn der Prozess von der Medizinalchemie über Syntheselabor über Kilolabor über Pilotanlagen in die kommerziellen Volumina nicht auf den letzten Rappen hin optimiert wird, sondern nach bestem Wissen und Gewissen machbar so gut man es eben in der kurzen Zeit hinbekommt.
Dieser Prozess wird dann bei den Behörden eingereicht und ... ist dann das Mass aller Dinge.
Und ja, insofern hat mein erster Chef recht: durchoptimiert werden die Prozesse nicht, dafür ist keine Zeit. Scale-Up-Effekte gibt es natürlich, normalerweise werden die aber nicht unbedingt mehr nachjustiert oder nur in begrenztem Rahmen, weil: der Prozess ist ja registriert.
Natürlich kann man auch nachträglich noch etwas ändern, aber ... das ist ist so kompliziert, dass es sich für 1.20CHF/kg oder aber "Orange und Kaugummigeschmack wäre doch auch nett" einfach nicht lohnt. So eine Änderung (oder, wie wir es nennen: ein "Technical Change"), die entweder jemand gut findet, weil sie den Prozess verbessern würde, oder die man machen muss, weil .. ein Zusatzstoff für die Tabletten oder den Sirup nicht mehr lieferbar ist, oder ein Produktionsstandort schliesst, oder oder oder, wird also daraufhin überprüft, ob er "regulatory relevant" ist, d.h., ob in den Dossiers, die man in den verschiedenen Ländern (und das sind vielevieleviele, die fast alle unterschiedliche Anforderungen haben) eingereicht hat, etwas drinsteht, das man ändern müsste. Wenn nicht, ist das recht einfach, man macht einfach dokumentiert alle Änderungen, die man macht, im Technical Change Management System, überprüft den Einfluss auf die Produktqualität (wäre gut, wenn es keinen hätte) und macht.
Wenn schon, dann wird es kompliziert. Man muss also die Behörden über diesen Change informieren ***, mit Daten beweisen, dass das Produkt nach dem Change genauso gut wie vorher ist, und die müssen dann überprüfen, ob sie das so akzeptieren können. Das ..... dauert. Einerseits das Generieren der Daten (wir erinnern uns: global, jedes Land hat andere Anforderungen, wir müssen ALLE erfüllen), andererseits die Überprüfung von Behördenseite. Nicht selten liegt das .... Wochen, Monate, Jahre auf einem Stapel, bevor sich das mal jemand anschaut und nicht selten kommen dann gefühlt endlose Fragerunden zurück. Gerne nicht nur zum veränderten Prozess, sondern auch zum Originalprozess, den man zB 10 Jahre vorher eingereicht (und aktzeptiert bekommen hat), als die Behördenanforderungen noch ganz andere waren.
Bis man so einen Change also global akzeptiert bekommen hat, vergehen Jahre. Und in dieser Zeit muss man natürlich **** das Produkt, das gemäss des Herstellungsprozesses VOR dem Change liefern. Das heisst, man muss nach dem alten Prozess weiterproduzieren und parallel nach dem neuen, weil: oft ist es ja so, dass man den Change nicht als Alternative, sondern als Ersatz einreicht und sobald ein Land sagt: "So, super, den Change, den ihr uns vor 24 Monaten geschickt habt, den finden wir gut. Macht mal.", muss man ab sofort Material nach dem neuen Prozess liefern. Und weil alle unterschiedlich lang brauchen, ist das alles sehr, sehr komplex. Darum kümmern sich bei uns die "Supply Chain Manager" *****
Und weil das eben alles Geld kostet (jede Behördeneinreichung kostet Geld, dann muss man eben einen bridging stock von "altem Material" an Lager legen, den man vielleicht irgendwann abschreiben muss, wenn die Länder doch schneller akzeptieren) und unglaublich viel Zeit, ist es eben nicht so einfach, mal eine schluckfreundlichere Tablette oder Orangengeschmack anzubieten. Da muss dann schon ein grösserer Patientennutzen****** oder ein starker business case dahinter stecken. Viel stärker als 1.20CHF Einsparung pro Kilo.
Mein Projekt, das jetzt in die heisse Phase kommt, hat mit genau so einem Change zu tun. Es wurde entschieden, einen Produktionsstandort zu schliessen und den Wirkstoff in Zukunft bei einem Lohnhersteller nach unserem Prozess produzieren zu lassen. Dafür mussten wir dem Lohnhersteller sozusagen beibringen, wie das geht, und er muss zeigen, dass er das kann. Zuerst im Labor, dann im Kilolabor und dann in den grossen Anlagen. Dort muss der Prozess validiert werden (in a nutshell: 3 aufeinanderfolgenden Ansätze entsprechen nicht nur der Spezifikation, sondern auch den vorher festgelegten Aktzepanzkriterien, die u.a. auf historischen Vergleichsdaten beruhen) und das passiert eben demnächst. Dem Ganzen vorausgegangen sind unendlich lange Abklärungen, weil natürlich die Anlage dort nicht zu 100% der bisherigen Anlage entspricht, wir haben jeden kleinen Unterschied auf möglichen Einfluss auf die Produktqualität überprüft (ohne Witz: wir haben das Material jeder einzelne kleine Schraube auf Produktkontakt und Kompatibilität zu Reaktionsmischung oder Produkt überprüft), wir haben hunderte Seiten an (italienischen und englischen) Master Batch Records überprüft und angepasst, auf der Analyitikseite natürlich das Gleiche, wir mussten die Sicherheits- und Arbeitshygienestandards beim Lohnhersteller auf unsere Standards anpassen (lassen), und jetzt (also: ab nächster Woche) gehts dann um die Wurscht und wir müssen sehen, ob wir an alles gedacht haben und ob wirklich das rauskommt, was rauskommen soll.
Wenn das dann erledigt ist (und der ganze Papierkram dafür erledigt), wird der Wirkstoff dann an verschiedene Galenik-Sites geschickt (praktischerweise ist das ein Wirkstoff, der in ganz vielen verschiedenen Formulierungen und Darreichungsformen auf dem Markt ist), die das dann zu Tabletten/Kapseln/Vials/Sirup etc. umsetzen. All diese fertigen Medikamente (und der Wirkstoff natürlich) werden dann "auf Stab" gelegt, d.h. in ihren fertigen Verpackungen in verschiedenen Klimakammern gelagert und nach einem vorher festgelegten Programm immer wieder bemustert, und wenn sie auch nach eben dieser Zeit bei 25, 30, 45 °C und verschieden hoher Luftfeuchtigkeit den Spezifikationen noch entsprechen, dann kann man all die Daten bündeln und an die Behörden weltweit verschicken.
Ab dem Zeitpunkt, wo das ganze an die Galenik weitergeht, bin ich eigentlich raus und kann nur noch Daumendrücken, und ja, ich freue mich schon sehr darauf!
* Ich kenne mich nullkommanull mit der Generikasparte aus, die sind der Feind das ist ein anderes Geschäftsmodell und ich weiss nicht 100%, wie das da alles geregelt ist. Ich vermute und hoffe allerdings: auch sehr streng.
** GMP = Good Manufacturing Practice. Klingt harmlos, ist aber ein unglaublicher Riesenaufwand an Dokumentation und erfordert ein gerüttelt Mass an Düpflischisser-Attitüde.
*** Da gibt es verschiedene Varianten, zB "Do and tell", "Tell and do" oder "Prior Approval". Das ist das, womit sich die Kollegen in der technischen Registrierung auskennen.
**** Natürlich, weil: ein Stockout ist nach einem Recall das Horrorszenario schlechthin für ein Pharmaunternehmen. Nicht nur finanziell, sondern auch ethisch, wir erinnern uns: Menschenleben.
***** Wenn dann bei einem Produkt noch mehrere Changes gleichzeitig laufen, sei es zB "Änderung des Produktionsstandortes des Wirkstoffs" und "Schriftgrösse der Beschriftung auf den Kapseln" und natürlich alles länderspezifisch verpackt wird, dann wird das sportlich. Vielleicht hat die EU den Produktionsstandort aktzeptiert, aber noch nicht die Schriftgrösse, dann können Sie für Europa zwar schon neuen Wirkstoff abfüllen, müssen aber noch die alten Kapseln verwenden, Russland hat die Schriftgrösse akzeptiert (und gleichzeitig angefragt, ob man die nicht in kyrillischen Buchstaben haben könnte), hat aber Mühe mit dem Produktionsstandortwechsel, die Türkei findet die Kapselschrift okay, der Wirkstoffproduktionsstandort ware an sich auch okay, aber sie müssen erst noch eine Inspektion ihrer Gesundheitsbehörde durchführen, und sie merken ausserdem an, dass man langfristig nur in der Türkei verkaufen darf, wenn man auch in der Türkei produziert, d.h. die Kapseln sollen bitte danke in der Türkei abgefüllt werden, Madagaskar meldet sich und sagt: "Ups, ihr ändert die Schriftgrösse? Uns hat niemand gesagt oder wir haben es übersehen, dass die Kapseln überhaupt beschriftet sind, hättet ihr bitte die toxikologischen Daten für die Tinte und ein Haram- und Kosher-Statement für die Kapseln?"
****** Ein Beispiel: ein(ige) "unserer" Onkologieprodukte wurden von "iV" auf "subQ" umgestellt, d.h. der Patient muss nicht mehr stundenlang im Krankenhaus sitzen, während die Infusion tröpfelt, sondern kann das subkutan gespritzt bekommen, das geht viel schneller.
12 Kommentare:
Ich finde diesen Einblick unfassbar spannend und bin so froh, dass ich das nicht machen muss. Dann gäbe es keine Medikamente 🤗
Verstehe, Herceptin.
Danke.
als beispiel für subQ: ja (nicht “mein” produkt, ich bin ja in der chemischen ecke, nicht b i den bios)
Das fand ich jetzt auch sehr spannend, danke für diesen Einblick :).
Superinteressant und für den Außenstehenden ein fremdes Land. Danke für den Einblick. Ich werde nie wieder meckern, wenn eine Tablette groß ist oder der Sirup nicht nach Orange schmeckt. Wichtig ist doch wirlich, dass diese Dinge da sind, verfügbar. und ich denke so manchmal - und aus guten Gründen - wie dankbar wir doch sein sollten dafür! Herzlich, Sunni
Vielen Dank fürˋs ausführliche, interessante Erklären. Spannend zu lesen und ich finde erstaunlich, was da alles dranhängt und dahintersteckt.
Liebe Grüße, Andrea
Hach, und wieder wird mir klar, was ich so vermisse....
Vielen Dank für den Einblick. Dass Medikamente gut überprüft sind, wusste ich, aber sooo kompliziert... Wow.
LG von TAC
Superspannend, danke!
Danke für den Überblick über die GMP-Prozesse. Ich bin seit 25 Jahren in der klinischen Arzneimittelentwicklung tätig (Good Clinical Practice (GCP)), wo die Medikamente am Menschen in klinischen Studien getestet werden, bevor der Zulassungsantrag gestellt werden kann. Auch sehr spannend und ähnlich kompliziert.
So viele Medikamente sind nicht lieferbar, ist das nur in Deutschland so? Bei mir waren das mal Hormonpflaster, also nicht lebensnotwendig. Aber mein Apotheker hat damals schlimm geklagt, z.B. wichtige Herzmedikamente, die man nicht so einfach austauschen kann.
Ich kann dich beruhigen, Generika müssen fast den gleichen Dokumentenberg einreichen wie der Originator. Das einzige, was sie sich sparen dürfen, sind die aufwendigen klinischen Studien. Die dürfen ersetzt werden durch eine Bioäquivalenz-Studie. Da zeigen sie, dass ihre Tablette genau so schnell durch den Körper raucht wie das Original, also auch die gleiche Wirkung erwartet werden kann.
Die Betonung liegt aber auf gleich! Sind sie besser, ist Bioäquivalenz nicht bewiesen, also bittedanke neue Studie. Eine der wenigen Situationen wo besser sein sich nicht lohnt ;-)
Wunderhübsch erklärt, regulatory affairs manager approves ;-) Scheint auch so, dass du begriffen hast, das Reg. A nicht einfach nur "Formblätter ausfüllen und Knopf drücken, was ist daran bitte so schwer" macht.
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