Pausetaste
Ich habe gestern abend die Twitter-Apps von meinen Telefonen gelöscht. Da ich Twitter praktisch nur über mobile devices genutzt habe, ist das ziemlich gleichbedeutend mit einer Twitterpause. Ich habe ehrlich gesagt nie wirklich nachvollziehen können, warum Leute "Online-Fasten" oder "Twitterpause über die Sommerferien" machen, weil ich den Austausch mit meiner Timeline immer mehr als Bereicherung (und sei es nur Unterhaltung und amüsiertes Kopfschütteln oder sogar Augenrollen) denn als Verpflichtung gesehen habe.
Vorgestern aber habe ich die Gründe einer von mir sehr geschätzten Bloggerin/Extwitterin gelesen, mit dem Twittern aufzuhören. Und gestern hat mich der Umgang mit dem Bild des toten Aylan am Strand vom Bodrum in meiner Timeline unglaublich traurig und wütend gemacht:
ich habe über das Bild tatsächlich zuerst gelesen und zwar nicht, wie man, wenn man so einfach und naiv gestrickt ist wie ich, glauben würde, mit dem Tenor: "Oh Gott, wie schrecklich, so traurig, das arme Kind, die armen Eltern/Geschwister, die armen anderen, für die dieses Kind/Bild ein Symbol ist.".
Nein, der Tenor war (ab hier wirds subjektiv und sicher haben Sie alle das ganz anders gemeint, weil eine Timeline stellt man sich ja selber zusammen und ich habe Sie ja irgendwann mal alle ausgewählt): "Wer mir dieses Bild in die Timeline spült, der wird geblockt". Ich hatte also vor meinem inneren Auge irgendwelche Horrorbilder von Nahaufnahmen eines von Fischen angenagten Babygesichts. Als ich das Bild dann tatsächlich gesehen habe, wurde ich erst unglaublich traurig, weil die ganze Tragödie durch dieses unglaublich traurige, aussagekräftige Bild ein Gesicht bekommt, die den Irrsinn der ganzen Situation (für mich auf jeden Fall) mit einem Blick erlebbar und spürbar macht. Und ja, ich wusste vorher, dass im Mittelmeer Menschen und darunter auch viele Kinder ertrinken. Ich wusste vorher, wie schlimm das ist. Aber wenn mit diesem,wie ich finde, überhaupt nicht pietätlosen, würdelosen, respektlosen Bild, ich würde soweit gehen, zu sagen, dass es genau das Gegenteil davon ist, die Tragödie auf einen Blick zusammengefasst und erlebbar/fühlbar/spürbar wird, dann ist das noch einmal eine andere Erfahrungsebene.
Das hätte ich natürlich all den aufgebrachten Twitter-wutbürgern, die über "Wie kann man nur dieses Bild teilen/anschauen?" fast implodierten vor (in meinen Augen) selbstgerechter Wut und Empörung, die (wieder: ein meinen Augen) am Problem/Drama/Thema total vorbeiging, so sagen können. Aber mal ehrlich: Diskussionen auf Twitter. In 140 Zeichen. Wenn Flüsterpost bei Drittklässlern immer mit Fäkalhumor endet, enden Twitterdiskussionen damit, dass man sich total beleidigt ist, einer den anderen blockt und die Meinungen, die man eh schon (voneinander) hatte nur noch eine Runde extremer zementiert sind. Ausserdem habe ich überhaupt keinen Nerv, mich mit den auf nicht dem scheinbaren Konsens meiner Timeline folgenden unendlichen Spiralen der Rechtfertigung und Missverständnisse zu beschäftigen. Da kommt dann der Punkt aus dem vorher verlinkten Blogpost zum Tragen: ich bekomme von Twitter schlechte Laune. Entweder durch die fruchtlosen Diskussionen oder durch den mir selbst auferlegten Maulkorb, um genau diese Diskussionen zu verhindern. Da ist die Diskussion um das Bild (bzw. eben nicht um das Bild, sondern um die selbstgestrickte, selbstgerechte Empörung drumrum) nur ein Beispiel. Man könnte das durch die einen Tag ältere Aufregerei um den bayerischen Innenminister und seine ungeschickte, dumme Äusserung im Fernsehen (bzw. auch da nicht um die Aussage an sich, sondern um das Verbreiten des "bösen" Wortes durch Hashtagnutzung oder noch besser, über die Aufregung darüber und dass man jetzt nur noch N-Wort sagen darf, und das wäre ja total bescheuert) einen Tag zuvor ersetzen. Jeder Tag auf Twitter hat seine eigene Empörungswelle, die sich ganz schnell auf ein, zwei, drei Metaebenen darüber schwingt und wie im absurden Theater immer skurrilere Kreise zieht, die aber mit verbissener Ernsthaftigkeit ausgefochten werden. Dafür ist mir meine Zeit und meine Energie zu schade.
Da ist die Lösung doch einfach: zwingt mich ja keiner, das alles zu lesen. Und weil ich mich kenne und meine mangelnde Impulskontrolle, wenn ich dann ja doch schnell mal nachschauen könnte, wer mit mir einer Meinung ist und wen ich jetzt doof finde, weil er mich überhaupt nicht verstanden hat, habe ich die Apps gelöscht. Erst mal. Und dann am Abend im Bett mit meinen Kindern im Arm gemeinsam um Aylan und all die Kinder und Erwachsenen, für die er steht, geweint.
6 Kommentare:
na super ;) und wie soll ich Ihnen dann jetzt danke für kluge worte sagen, wenns mal an der zeit ist?
"mangelnde Impulskontrolle" das muss ich mir merken! +1
also +1 eigentlich für sehr vieles hier in diesem Blogpost und auch sonst. ♥
amen. amen. amen. manchmal frag ich mich auch, warum "ich mir das an tu". man muss schon ein bisschen masochistisch veranlagt sein.
ich halte es mit: wundern. nicht aufregen. und: nicht in 140 zeichen mitdiskutieren. dafür bespreche ich solche extremen aufreger gerne offline mit echten menschen.
und deine worte lassen sich 1:1 übertragen auf jede x-beliebige aufregerwelle auf twitter. du hast es sowas von auf den punkt gebracht! mach deine pause. aber bütte nicht zu lange. wird ja sonst langweilig! <3
Ich hab mir gestern auch erstmal ne Pause auferlegt. Allerdings nicht ganz so hart wie du. Meine mentions und DMs lese ich noch. Ich bin selbst überrascht, wie gut ich das hin bekomme, denn eigentlich ist meine Impulskontrolle auch nicht die beste. Neben diesen metadiskussionen, was man sollte und was nicht hat mich dieser nicht abreißen de Strom an neuen horrormeldungen dermaßen mitgenommen, dass ich mich kaum mehr konzentrieren konnte. Und weil ich dafür sicher niemanden anderes verantwortlich machen möchte (siehe oben), lese ich es bis auf weiteres nicht. Auch keine Nachrichten. Die lasse ich mir vom liebsten abends erzählen.
Ich weiß aber auch, dass ich nicht komplett auf den Austausch mit den vielen tollen Menschen auf twitter verzichten möchte. Aber hin und wieder mal ne Pause, wenn es einer, warum auch immer, zuviel wird, dagegen spricht ja nix.
genauso habe ich auch gefühlt, es war so nah, es ist so traurig, es gibt dem Irrsinn ein Bild, das uns nahe geht. Ich finde es wichtig.
Ich mache ja im Augenblick habilbedingt ohnehin eine große Twitterpause, aber ich kann Deine Begründung sehr gut nachvollziehen. Am Donnerstagmorgen letzte Woche, als die beiden Fotos durch die Medien gingen, war ich gerade in London angekommen, wo so gut wie alle Zeitungen das Bild als Aufmacher für die Titelseite gewählt hatten. Und mir ging es genau so wie Dir: Ich fand das Bild traurig, bewegend, vor allem aber: unendlich wichtig. Weil es Leiden greifbar, konkret und nachvollziehbar macht, wo Worte sonst versagen. Bezeichnend fand ich es auch, dass Chris Riddell für seinen ganz großartigen aktuellen Cartoon im Guardian letzte Woche eben das Bild des toten Kindes am Strand ins Zentrum gestellt und es mit der politischen Kampfrhetorik vom "Schwarm" konfrontiert hat: Auch das nicht entwürdigend, nicht heuchlerisch oder ausbeutend, sondern nachdenklich, analytisch, aufwühlend, entlarvend, schmerzend. Ich weiß, dass die Briten eine anderen Medienkultur als wir haben und dass es durchaus möglich ist, dieses Foto sensationsgeil zu präsentieren, aber davon war zumindest bei den zurückhaltenden, klugen Analysen, die ich im "Guardian" zur rhetorischen Wirkung dieses Bildes gelesen habe, nichs zu spüren.
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