Wie viele Chemikerinnen braucht es, um ein Mannlochschauglas* zu wechseln?
Die Antwort ist einfach: keine einzige, weil das machen die Leute aus der Werkstatt oder, wenn Nacht ist, manchmal auch die Betriebsmitarbeiter selber.
Die Antwort ist auf keinen Fall: keine einzige, weil das keine Frauenarbeit ist und Frauen das auch nicht können. Können sie nämlich wohl, ich jetzt auch.
Aber lassen Sie mich von vorn anfangen. Bei uns im Betrieb gibt es jede Menge Rohrleitungen, grosse und noch grössere (und ganz wenige kleinere) Kessel, Tanks, Zentrifugen, Trockner, noch mehr Rohrleitungen, etc. . Wenn da irgendetwas kaputt ist und ausgetauscht werden muss oder die Anlage zwischen zwei Produktionen gereinigt werden muss (wer will denn schon zB Diclofenac im Valium haben?), dann wird dort geschraubt und gebaut, was das Zeug hält. Und weil da vorher und nachher Chemie drin war, ist das nicht mal nur so lustiges irgendwie zusammenschrauben, Hauptsache es hält, wird schon passen, nein, das muss alles dicht sein, es darf nicht unter Spannung stehen, weil sonst viele Messgeräte nicht mehr korrekt funktionieren und Undichtigkeiten etc. vorprogrammiert sind. Ausserdem muss beachtet werden, dass es die verschiedensten Werkstoffe gibt, wir haben zB Anlagen, die voll und ganz aus Stahl nichtrostend sind, dann gibt es Anlagen aus Hastelloy, aus emailliertem Stahl, aus Stahl mit Teflon ausgekleidet und weil all das nicht aus Jux und Tollerei so ist **, muss das natürlich auch bei den Leitungen und Dichtungen etc. beachtet werden. Überhaupt Dichtungen: die müssen immer wieder mal gewechselt werden und das ist gar nicht so leicht.
Also, was tun? Genau: Die Schulsommerferien nutzen und im Lehrbetrieb eine Schulung "Vom Umgang mit Rohrleitungen und Dichtungen" veranstalten. Diese Schulung ist im Prinzip für Betriebsmitarbeiter gedacht, um in der Lehre vor langer Zeit gelerntes und vllt. durch den Arbeitsalltag verdrängtes Wissen wieder aufzufrischen, allerdings wurde uns Chemikern sehr eindringlich ans Herz gelegt, dass wir ja erstens ein gutes Beispiel sein könnten und es uns auch überhaupt nicht schaden würde, auch mal schrauben zu lernen.
Also habe ich mich brav für heute nachmittag zur Schulung angemeldet und wie das halt so ist, waren sämtliche drei Frauen aus allen drei Betrieben heute beim gleichen Kurs. Der Frauenanteil war mit 42.9% nur knapp 15mal höher als der Abteilungsdurchschnitt, der Schulungsleiter dementsprechend verwirrt: "Oh. Damen. Drei. Das hatten wir ja noch nie."
Aber was will man machen, den "BunterHund"-Status sind wir alle drei gewohnt, wir haben uns also brav die Theorie zu Rohrklassen, Losflanschen, Bundscheiben, Dichtungsmaterialien etc. angehört und sind dann mit Arbeitshandschuhen und Schraubenschlüsseln ausgestattet zum praktischen Teil gewandert. Der Schulungsleiter meinte noch: "Die Damen übernehme ich, die anderen können mit dem Lehrling mitgehen", was natürlich dem Diversity-Gedanken nicht so 100% entspricht. Andererseits hatte der Schulungsleiter sich anscheinend gedacht, dass wir drei zu diesem Kurs verdonnert worden wären, eh keine Lust hätten und am liebsten schnell fertig werden würden. Wir standen also vor einem Abtrennschauglas, das es auszubauen, mit neuen Dichtungen zu versehen und wieder einzubauen galt.
Der Schulungsmann meinte: "Okay, das geht so, ich zeig das mal schnell, man schraubt, da, da, da, immer über Kreuz, ganz aufmachen muss man das nicht, wir müssen das jetzt gar nicht fertig machen, alle gesehen? Dann gehen wir weiter."
Da hatte er dann aber nicht mit der über Jahre entwickelten "Ich kann aus Prinzip alles, was ein Mann auch kann und will auf gar keinen Fall irgendeine Bevorzugung"-Haltung von uns drei Frauen in der Produktion gerechnet. Wie damals in der Schichtwoche, wo ich aktiv sagen musste: "Ich will jetzt in den Vollschutz und wirklich schaffen", war unsere Antwort klar: "Okay, danke fürs Zeigen, wir würden das jetzt gern selber machen."
Und dann haben wir zu dritt das Schauglas (wohooooo, so ein 4cm dickes, 50cm im Durchmesser Glas und der entsprechende Flansch sind...... schwer!) ausgebaut, wir haben einen Mannlochdeckel geöffnet und geschlossen, wir haben Leitungsstücke über Kopf ausgebaut und wieder eingebaut, wir haben nicht ganz passende Spezialbauteile ausgebaut und mit etwas Gewalt via Kunststoffhammer wieder eingebaut, wir können jetzt Dichtungen in Kamlock-Stopfen wechseln, und es hat sogar richtig Spass gemacht. Also: uns. Der Schulungsleiter hatte nicht ganz soviel Spass, weil wir erstens am längsten von allen Gruppen gebraucht haben und zweitens ist es ja immer schwer, wenn man selber was richtig super gut kann, jemandem zuzuschauen, der das zum allerersten Mal macht und sich dabei anstellt wie der erste Mensch. (Ich habe ja so eine Drehrichtungsschwäche und das wird dann mühsam, wenn man 24 Schrauben in drei Runden jeweils über Kreuz anziehen soll und jedesmal mit 50%Wahrscheinlichkeit erstmal wieder auf statt zu schraubt.)
Ich wage aber die Aussage, dass unsere "Ungeschicklichkeit" und der längere Zeitbedarf nicht an unserem Geschlecht sondern eher an unserer Kittelfarbe lag. Die ChemikerInnen tragen bei uns nämlich weiss, die Betriebsmitarbeiter grün, die Werkstattleute blau, und ich wette ganz ehrlich, dass sich unsere männlichen Chemikerkollegen nicht weniger ungeschickt anstellen werden.
Und in Zukunft kann ich Little Q., der mit seinem in der Schule gebauten Solarboot meinte: "Oh, da muss man noch ein Kabel festschrauben, wann kommt der Papi heim?" sagen: "Mein lieber Sohn, deine Mutter hat eine Schrauberschulung, das würde ich ausnutzen!"
* Erklärbär 1: Ein Mannloch ist so etwas. Das Schauglas ist das Glasding in dem runden.
** Erklärbär 2: Hauptgrund für verschiedene Werkstoffe sind die unterschiedlichen Beständigkeiten. Grob gesagt kann man in einer Stahlanlage sehr wohl basische Reaktionsmischungen handhaben, aber keine sauren, in emailliertem Stahl ist es genau andersrum. Wenn mans falsch macht, hat man Lochfrass und Spaltkorrosion (aka: der Kessel rostet bzw. die Emaille-Beschichtung löst sich auf) und kann einen neuen Kessel kaufen.
3 Kommentare:
Mein Tipp in Punkto Drehschraubrichtung ist der englische Spruch: " righty tighty, lefty loosy", muss ich immer dran denken, wenn die Marmelade nicht auf geht.
Ich komme immer dann ans Überlegen, wenn sich eine Schraube einfach nicht bewegen will, z.B. gestern, als die Verschlussschraube zum Thermenwasserzulauf nicht so wollte wie ich. Mein Töchterlein war sehr erstaunt, dass Mami das auch ohne Abteilung Technik aka Herzensmann erledigen kann ...
Der ganze Post hat mich grinsen lassen, da mein Herzensmann in seinem Labor die Dichtungen und Membranen entwickelt, die bei euch wahrscheinlich auch eingebaut sind. Kam mir alles doch irgendwie bekannt vor und ich könnte sogar noch das eine oder andere beisteuern!
Ich lese hier wirklich zu gerne mit, vielen Dank dafür!
Sommerliche Grüße aus dem Büro
Petra
Aaah, Produktion und Technik - meine Lieblingsthemen in deinem Blog! Vielen Dank für die Details.
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